Rückspiegel

26. Juni 2012 – 01. Juli 2012: Blow!8 - Internationale weibliche Positionen der Performance Art (Hildesheim/Ilsede)


Blow!8 – Internationale weibliche Positionen der Performance Art (Hildesheim/Ilsede)

Ort:
Umformerstation, Gelände der ehemaligen Ilseder Hütte, Groß Ilsede + Gymnasium Groß Ilsede + Universität Hildesheim + Relaxa Hotel Bad Salzdetfurth

Termine:

  • 26.06.2012
    Künstlervortrag in der Steinscheune (Domäne Marienburg) der Universität Hildesheim
    ab 18 Uhr
  • 27.06.2012
    Künstlervortrag in der Aula des Gymnasiums Groß Ilsede
    ab 18 Uhr
  • 29.06.2012
    4 Performances von 4 Künstlerinnen in der Umformerstation des Hüttengeländes Ilsede
    ab 19 Uhr
  • 30.06.2012
    4 Performances von 4 Künstlerinnen in der Umformerstation des Hüttengeländes Ilsede
    ab 19 Uhr
  • 01.07.2012
    8 Performances aller Künstlerinnen auf dem Gelände des Relaxa Hotels, Bad Salzdetfurth
    ab 16 Uhr

Organisatoren:
Ideenstiftungs e.Verein c/o Dr. Helge Meyer und Beate Linne

Eingeladene Künstlerinnen:
1. Macarena Perich Rosas (Chile)
2. Sandra Johnston (Nordirland)
3. Claudia Bucher (Schweiz)
4. Marilyn Arsem (USA)
5. Gwendoline Robin (Belgien)
6. Essi Kausalainen (Finnland)
7. Shannon Cochrane (Kanada)
8. Alice de Visscher (Belgien)

Die Idee:
Der Grundgedanke für die geplante Veranstaltung „Blow! – Aktuelle Positionen der Performance Art“ ist die Lust, an einem Ort mit Geschichte und industriellem Charme zu arbeiten und eine relativ junge Kunstform zu installieren. Die alte Industrieanlage auf dem Gelände der ehemaligen Ilseder Hütte bietet mit ihrem angegriffenen Charme eine Herausforderung der besonderen Art: sowohl der besondere Klang sämtlicher Geräusche in der Station, als auch die Vielseitigkeit der performativ nutzbaren Orte innerhalb des Gebäudes und die Grundstimmung des Raums luden geradezu ein hier zu arbeiten.
Mit dieser Veranstaltung wird wiederholt ein außergewöhnliches Projekt in Angriff genommen: Die Performance Art ist heute eine der wenigen Formen, die trotz ihrer Bedeutung und Tradition innerhalb der Kunstgeschichte nicht von den Mechanismen des Kunstmarktes eingenommen werden kann. Das liegt vor allem an ihrer vergänglichen Aufführungsstruktur. Der Künstler schafft kein bleibendes Werk. Vielmehr entsteht die Aktion vor den Augen des Publikums und bewegt sich somit im Dreieck aus Raum, Zeit und Handlung. Nach der Performance bleiben einzig Relikte und Dokumentationen der Arbeit als Beweis ihres Stattfindens zurück.
Die Performance gibt als eigenständiger künstlerischer Ausdruck keine klärenden Antworten auf brennende aktuelle Fragen, vielmehr kann sie ein Veränderungsmoment zum Wechsel des Standpunktes des Betrachters sein. Durch ihre Direktheit und die Aktualität ihrer Inhalte ist sie eine Kunstform, die im Hier und Jetzt verankert ist. Ihre Bildsprache mag verstören, schockieren und absurd erscheinen, sie ist jedoch immer die Übersetzung der Realität in ein Ereignis, ein lebendiges Bild und lässt somit die Distanz zwischen Betrachter und Performer schwinden.
In Zusammenarbeit mit der Universität Hildesheim, dem Gymnasium Groß Ilsede und der Stadt Bad Salzdetfurth wurden 8 Künstlerinnen für die Veranstaltungen ausgewählt, die aus unterschiedlichen Performer-Generationen stammen: von jungen Künstlerinnen wie Macarena Perich Rosas aus Chile bis zu „Veteraninnen“ der Kunstform wie die Professorin Marilyn Arsem aus den USA, wird sich den Zuschauern ein breites Feld an visuellen und inhaltlichen Ansätzen bieten.
Neben den geplanten Auftritten werden die Künstlerinnen Kurzvorträge und Workshops für angehende Kunstlehrer an der Universität Hildesheim anbieten. Die Zusammenarbeit mit der Universität basiert seit Beginn der Blow!-Veranstaltungen auf der Idee, die Anwesenheit internationaler Gäste auch in einen pädagogischen Nutzen umzusetzen. Zusätzlich werden die Künstlerinnen zu einem Vortrag für Schüler des Gymnasiums Groß Ilsede eingeladen, an dem Dr. Helge Meyer auch als Kunst- und Darstellendes Spiel-Lehrer tätig ist..
Die Performance-Serie „Blow!“ konnte bereits Künstler wie Boris Nieslony (Deutschland), Anja Ibsch (Deutschland), Myriam Laplante (Italien/Kanada), Jason Lim (Singapur) und Julie Andree T. (Canada) und die (bereits auf der documenta in Kassel aufgetretene) renommierte Künstlergruppe Black Market International als Gäste verbuchen. Eine wachsende Zahl von Besuchern zeigte sich von der Vielfalt der internationalen Performance Art-Szene beeindruckt und macht die kleine Reihe zu einem unverzichtbaren Aspekt der kulturellen Landschaft der Region. In jedem Fall bieten sich den Betrachtern neue Sichtweisen auf eine lebendige Form der Bildproduktion, die sie, jenseits von gewohnten theatralen Inszenierungen, mit immer neuen Bildwelten zu überraschen vermag.


Zu Performance Art (von Dr. Helge Meyer):

"Performance cannot be saved, recorded, documented, or otherwise participate in the circulation of representations of representations: once it does so, it becomes something other than performance. To the degree that performance attempts to enter the economy of reproduction, it betrays and lessens the promise of its own ontology." Peggy Phelan


Performance Art hat eine Zeitdimension, die sich auf spezifische Weise von anderen Künsten unterscheidet: Im Moment des Ereignisses der performativen Handlung ist der Prozess der Vergänglichkeit bereits im Vollzug. Damit ergibt sich eine ephemere Qualität von Bewegungsbildern, die einer besonderen Intensität und Präsenz verpflichtet sind, um Eingang in die Wahrnehmung von Betrachtern zu finden. Auch entzieht sich die Performance den Marktkriterien, wie Peggy Phelan auf treffende Weise formuliert. Es bleibt nichts zurück außer der Spur der Bilder in der Erinnerung der Anwesenden.
Was ist hieraus für die Entwicklung der Performance Art aus der Sicht der Bildenden Kunst zu vermuten? Die relativ junge Kunstform, deren Ursprünge ich in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den anti-musealen, avantgardistischen Kunstaktionen der Futuristen sehe, tritt gegen mächtige Konkurrenten an: Die etablierten Kunstformen wie Malerei, Installation, Fotografie und Videokunst dominieren die Hitlisten einer kunstinteressierten Öffentlichkeit und damit auch den Markt. Fernsehen, Film in jeglicher Materialität und digitale Bildvermittler wie das Internet hingegen prägen das Verständnis wie Bilder sind und was Bilder können. Die Auswirkungen dieser Entwicklung sind im Moment kaum zu überblicken.
Anders in der Performance Art: Ist die Live-Arbeit beendet, findet die Entfernung zum Bild der Performance im Zuschauer selbst statt. Das Bild selbst existiert nicht mehr körperlich. Es wird von der Ebene der Präsenz in die kognitive Ebene des Erinnerns und Bewertens übertragen: Es wird zur punkthaften Präsenz in der Vergangenheit, zur Spur! Damit eignen sich die Betrachter das Bild jedoch selbst an. Es erlangt eine eigene Qualität in der kognitiven Sphäre eines jeden Betrachters.
Die Sinnlichkeit der Ko-Präsenz des Betrachters ist meiner Meinung nach die absolute Stärke der Performance. Hier verorte ich auch ihre zeitlose Bedeutsamkeit, die keinen Moden oder Tendenzen unterworfen ist. Das Subjekt handelt mit dem Leib, es erarbeitet sich Situationen und verkörpert diese Handlungen in Bildern. Damit wird dem Menschen als Träger einer Art kulturellen Gedächtnisses eine wichtige Rolle in der Übertragung von Bildern beigemessen. Es ist den technischen Bildmedien nicht gegeben, die in ihnen dargestellten Bilder dynamisch zu verwandeln. Erst die subjektive Umdeutung, das Vergessen oder die Neuinterpretation durch die Einverleibung der Bilder macht sie zu einem Teil der Kultur. Das Bild ist immer Resultat einer persönlichen und kollektiven Symbolisierung. Das meint, dass alles, was wir wahrnehmen, in unserer Vorstellung, in einem kognitiven Akt, zu einem Bild gewandelt wird, welches von den kulturellen Grundsätzen der Gesellschaft, in welcher wir leben, geprägt wird. Dazu kommen unsere persönlichen Werte und Urteile. Nun entsteht das Bild in uns, es ist von einem äußeren zu einem inneren Bild geworden. Festivals wie Blow! wollen vielfältige kulturelle Positionen präsentieren und zu einer emphatischen Offenheit für das „Andere“ anregen!
Ein wichtiger Kern der heute aktiven Performancekünstler hat sich zu einem Netzwerk zusammengeschlossen, welches Dank der hoch entwickelten Kommunikationsmöglichkeiten des Internet in der Lage ist, schnell auf Ereignisse zu reagieren und sie in Handlungen oder Kommunikationsprozesse umzusetzen. In regelmäßigen Treffen, rund um den Globus, findet statt, was Ende Januar 2005 in Berlin auf einer Veranstaltung der Heinrich Böll Stiftung schwerfällig unter dem Titel „Identität versus Globalisierung?“ diskutiert wurde: Künstler und Theoretiker treffen sich nicht nur auf einer Dialogebene, sondern handeln performativ. Es werden Performances aus aller Welt vor einem Publikum aus aller Welt gezeigt, welches sich mit den Aufführenden auf einer Präsenzebene befindet. Gemeinsame Arbeiten entstehen und soziale Projekte auf einer Mikroebene werden in die Tat umgesetzt, vorbei an einer Bürokratie, deren performatives Handeln (also das „tätig werden“ mit tatsächlichen Folgen) oftmals an Behäbigkeit scheitert. Diese beispielhaften Beschreibungen sollen nicht den Eindruck erwecken, bei der Performance Art handele es sich um eine Form künstlerischer Sozialarbeit. Dies ist sicher nicht der Fall. Es geht vielmehr um das Handeln. In der Sprechakttheorie John L. Austins bezeichnet Performanz das ernsthafte Ausführen von Sprechakten. Performative Äußerungen sind hierbei keinen "logisch-semantischen Wahrheitsbedingungen" unterworfen, sondern erhalten ihre Bedeutung lediglich in Bezug auf ihre Gelingensbedingungen.
"Im Gegensatz zur "konstativen Beschreibung" von Zuständen, die entweder wahr oder falsch ist, verändern "performative Äußerungen" durch den Akt des Äußerns Zustände in der sozialen Welt, das heißt, sie beschreiben keine Tatsachen, sondern sie schaffen soziale Tatsachen. So bewirkt der deklarative Sprechakt des Standesbeamten kraft seines Amtes, daß sich die Eheleute danach im Zustand der Ehe befinden." Exakt dieser Aspekt des Schaffens sozialer Tatsachen spielt für die Kunstform der Performance eine prägende Rolle: Es handelt sich nicht um ein inszeniertes Spiel, sondern um eine tatsächlich vollzogene Handlung mit allen realen Folgen.
In meinem Verständnis aktueller Performance Art muss das Bewusstsein um diese Besonderheit in der Erarbeitung von Performances immer eine Rolle spielen. Ich betrachte die Handlungskunst als eine Chance für den Dialog und den Beweis für die Wirksamkeit von kulturellen, bildhaften Äußerungen. Diese Bedeutsamkeit ist nicht an eine spezifische Weiterentwicklung von Ausdrucksformen oder Materialien innerhalb der Performance gebunden. Vielmehr muss und sollte sich die Performance außerhalb von Mode und Tendenzen verstehen und mit Besonnenheit und Konzentration an ihrem Thema arbeiten. Dieses Thema ist für mich jeder andere Mensch.


Bei weiteren Fragen zu der Veranstaltung wenden Sie sich bitte an:
Helge Meyer, info@performance-art-research.de


zurück nach oben








sock 20110910 von Claudia Bucher,
credit: Rob Nienburg


Due Process: Sandra Johnston


Essi Kausalainen, Photo: Mikko Kuorinki


Perich hain: Macarena Perich Rosas


Alice De Visscher


Shannon Cochrane


Marilyn Arsem, Photo by He Chengyao


Gwendoline Robin, credit: P. Delaunois